Freitag, 19. Oktober 2007
Kulturschöcker
Man sagt ja, wenn man in einem anderen Land lebt, wird man nach einer gewissen Zeit, in der man alles neu und aufregend fand, von dem ein oder anderen Kulturschock heimgesucht. Nun, bei mir ist es nun soweit. Versteht mich nicht falsch, Lyon ist toll und es gefällt mir hier. Die französische Kultur ist ja auch der deutschen nicht so fern wie es die japanische zum Beispiel wäre, aber es gibt doch kleine, aber feine Unterschiede, die das eine oder andere kleine Schöckchen auslösen. Und dabei meine ich nicht fromage, baguette, vive la France oder Allez les Bleus. Wobei...zugegebenermaßen ist sehr reifer, schrumpelig-merkwürdiger Käse mit zentimeterdicken Schimmelschichten - verkauft als Delikatesse - auch eher gewöhnungsbedürftig für den flecke- und saumagengeprüften deutschen Gaumen. Vom Brot brauchen wir gar nicht erst reden - Sonnenblumenvollkorn -und Graubrot ich liebe euch! Naja, aber Baguette hat schon was für sich, ist halt eben sehr französisch. Ok, wenden wir uns mal vom Kulinarischen ab - ist ja eh Geschmackssache - und weniger appetitlichen Themen zu. Da wäre zum Beispiel dieser Geruch. Er weht dem Spaziergänger manchmal aus Metroschächten, Hauseingängen und Einfahrten entgegen: Pipigeruch! Brrr, schüttel. Nicht überall, aber manchmal halt schon. Zugegeben - die Franzosen pinkeln nicht an ihre Hauswände, aber Einwanderer, Kinder und Penner schon (Penner, les clochards, im übrigen sind in Frankreich durchaus geachtet, sie gelten als Aussteiger aus der Gesellschaft, die sich bewusst dafür entschieden haben und sind nicht wie bei uns der Abschaum). Sehr unangenehm ist der Geruch an warmen Spätsommertagen, wenn er sich mit dem Odeur des Mülls vermischt, welcher im Verhältnis zu Deutschland doch häufiger mal auf der Straße landet. Das führt zur nächsten Eigenartigkeit. Alle zwei Tage werden hier in Lyon die Hydranten aufgedreht und mit sehr viel Wasser die Straßen und Fusswege abgespült. Und irgendwie ist das bei den ganzen Häufchen (Wie wärs mal mit Hundesteuer, Monsieur Sarkozy? Aber in Ihrem Paris gibt es ja auch die crottomobiles, die aussehen wie der Staubsauger bei den Teletubbies, die dann die Häufchen wegsaugen) und dem Müll auch nötig. Morgens auf dem Weg zur Arbeit oder zur Uni plitscht und platscht es der vornehmen Lyonnerin dann um die sündhaftteuren Lederpumps, aber hey, in Häufchen tritt man dann nicht mehr. Aber sagt mal, liebe Lyoner (und hier ist nicht die Wurst gemeint, die man übrigens in Lyon gar nicht kennt), schonmal was von Ressourcenverschwendung gehört? Gut, ihr habt zwei Flüsse...hm, die auch noch stark verschmutzt sind.Hm, womit gießen die Winzer wohl ihre Trauben für den beliebten Beaujoulais, wenn es mal nicht genug regnet? Je ne sais pas! Dafür sind alle zwei Tage morgens für zwei Stunden die Straßen sauber (ich gebe zu, dass ist wirklich eine sehr deutsche Einstellung, aber so sind wir halt), bevor der Müll wieder auf die Straße wandert, anstatt in das tolle Recyclingsystem - ach nee, sowas gibts hier ja auch nicht (höchstens freiwillig und warum sind wir dann die einzigen, die das machen, wenn es dem Rest Europas so egal ist?)! Dafür ist der Atomstrom so schön billig! Aber mal noch zu einem anderen Kulturschöckchen: französisches laissez-faire! In Deutschland würde man vielleicht sagen "Komm ich heut nicht, komm ich morgen". Irgendwie kann ich mich daran noch nicht gewöhnen, pas du tout. Ein kleines Beispiel: laut Mietvertrag dürfen wir alle 14Tage Bettwäsche und Handtücher wechseln. Also öffnet das Wäschelager zweimal die Woche für ca. zwei Stunden, was dann ein paar Tage vorher per Aushang bekanntgegeben wird. Leider liegen die Zeiten oft etwas ungünstig, und ausgerechnet da, wenn wir noch Uni haben. Also beeilten wir uns letzten Dienstag um noch vor 19Uhr zu Hause zu sein. Hechelnd stürmten wir mit unserem Wäscheberg zur Ausgabe und standen vor verschlossenen Türen - und das 20min vor Ablauf der angegebenen Zeit! Einfach den Laden schließen, obwohl man vorher großmoglich Öffnungszeiten dran schreibt, gäbe es in Deutschland nicht! (Ja, wir sind diesbezüglich doch sehr verwöhnt) Ach übrigens, solltet Ihr mal in Frankreich auf eine öffentliche Toilette gehen wollen, versichert Euch vorher (!!!), dass Papier IN der Kabine ist, andernfalls hängt es wohl VOR der Tür. Kann unangenehm werden, wenn man als Frau nicht sowieso nur ein Loch im Boden vorfindet, wenn man die Kabine betritt. Ist so eine komische französische Eigenart. Ich weigere mich bis jetzt erfolgreich, soetwas zu benutzen! Apropos weigern! Der Franzose an sich liebt es ja zu streiken, zum Beispiel in den öffentlichen Verkehrsmitteln, gestern sogar in ganz Frankreich. Aber irgendwie haben wir nicht viel davon gemerkt. Nur waren die Métrobahnen irgendwie leerer als sonst. Das ist ziemlich merkwürdig, weil vorher ein großes Trara darum gemacht wurde. Die meisten sind wohl auf andere Fortbewegungsmittel umgestiegen. Also, entweder die Lyoner TCL-Angestellten sind zufrieden oder der Streik war irgendwie ein Witz, haha.
Nun, das waren erstmal ein paar von den französischen Eigenartigkeiten. Aber sonst ist es hier wirklich ganz toll und wir fühlen uns wohl. Man sollte nicht so viel meckern.Besonders dann nicht,wenn man hier fantastischen (anderen als den schimmligen) Käse, Wein und neuerdings auch Pastis (ouzoartiges, nicht ganz so starkes Anisschnapsgetränk) genießen kann. Und die kleinen Kulturschöckchen werde ich wohl überwinden. Ist das ein erster Anflug von laissez-faire? Juppie! Ja, ich liebe Frankreich trotz dieser merkwürdigen Dinge. Oder gerade weil? Nein, eher trotzdem.

Dat liebe Änschä

PS: Wusste Ihr, dass die First Lady nicht die Scheidung einreichen darf, solange ihr Mann Präsident ist, es sei denn ihr Göttergatte stimmt zu? Tja, Madame Sarkozy, überlegen Sie es sich gut und denken Sie dann mal über liberté, égalité und fraternité nach. Vive la France!

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witzig
Das wäre kein Leben für mich: Kommste heute nicht kommste morgen. Dann kann man sich auf fast gar nichts verlassen. Ordnung muss sein :) Aber ich freu mich, dass ihr über verschiedene Dinge hinwegsehen könnt.

Es ist doch höchst interessant, wie sich dein Sprache den französischen Gegebenheiten anpasst. Frei nach dem Motto: Denglisch ist out, jetzt kommt Deuzösisch. jedoch ist auch hier ein Lob angebracht: Du formulierst es als leicht verständlich und sympathisch, sodass man am liebsten keins der Vokabeln vergessen möchte.

Sorge bereitet mir der anisähnliche Schnaps - kennt man dich doch als jemanden, der nie mehr als ein Bier trinkt :)

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